Birkenwerder II
Erklärung der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. anlässlich ihrer Tagung „Deutschland nach den Wahlen“ in Birkenwerder bei Berlin (30.10.-1.11.09)
Die Krise der SPD gründet im Wesent- lichen auf einem Glaubwürdigkeitsproblem, das bereits 1998 seinen Ausgang nahm. Die SPD trat damals an mit dem Ziel einer sozialverträglichen Moderni- sierung der Gesellschaft unter der Leitlinie„InnovationundGerechtigkeit“.Die- ses Versprechen war schwer einlösbar, vor allem fehlten schlüssige Konzepte der Umsetzung. Hinzu kamen wirtschaftliche Stagnation und veränderte Rahmenbedingungen wie Globalisierung, Individualisierung, demographischer Wandel. Dies hätte keine Begründung für den Abbau sozialer Sicherungssysteme sein müssen, daraus resultierte allerdings die Notwendigkeit, den Sozialstaat auf eine neue Grundlage zu stellen.
Mit dem Schröder-Blair-Papier und der Agenda 2010 versuchte das Regierungshandeln dieser Situation zu begeg- nen. Versäumt wurde, diese Konzeptio- nen breit in der SPD und der politischen Öffentlichkeit zu diskutieren, sowie deren Inhalte sozial zu modifizieren. Dies wäre die Voraussetzung für eine allgemeine Akzeptanz gewesen.
Die Grundidee der Regierungs-Reformpolitik „Fordern und Fördern“ war richtig, aber wir haben versäumt, sie in Partei und Gesellschaft verständlich und auf der Grundlage sozialdemokratischer Werte zu vermitteln. Auf neu entstandene Ungerechtigkeiten und Defizite der
Praxis wurde nicht mit der notwendi- gen Offenheit reagiert, Kurskorrekturen wurden in toto ausgeschlossen.
Dadurch wurde die Agenda 2010 zum Anlass tiefer Strukturveränderun- gen im Parteiensystem, die die SPD in die Opposition gebracht haben und den Wiederaufstieg zu einem langen und schwierigen Weg machen werden. Durch die WASG und deren Zusam- menschluss mit der ostdeutschen Regionalpartei PDS wurde die Linkspartei zu einer relevanten Konkurrenz zur Sozial- demokratie. Dies ging einher mit dem Verlust traditioneller Wählerschichten, ohne dass neue Wählerschichten dauer- haft eingebunden werden konnten.
Damit stellt sich für die SPD die Herausforderung einer inhaltlichen und personell überzeugenden Neuaus- richtung mit der Bestimmung und Be- schreibung ihrer Kernkompetenzen. Wo diese Kernkompetenzen nicht sichtbar werden, droht der SPD Identitätsverlust. Der Abwanderungsprozess bisheriger SPD-Wähler in alle politischen Richtungen (einschließlich der Nichtwähler) wird dann nicht aufzuhalten sein – geschweige denn, dass dieser Prozess wie- der in breitere Zustimmung für die So- zialdemokratie verändert werden kann.
Der Markenkern der SPD ist das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, das mit wirtschaftlicher Vernunft und Fä- higkeit zur Innovation verbunden wer- den muss. Diese Spannung auszuhalten, also wirtschaftliche Kompetenz wiederzuerlangen und für soziale Gerechtigkeit glaubhaft einzutreten – mit realistischen Konzepten, die „auf der Höhe der Zeit sind“ – macht das eigentliche und eige- ne Profil der Sozialdemokratie aus. Ein bloßer Überbietungswettbewerb mit der Linkspartei wäre falsch und wür- de den Anspruch aufgeben, integrative Volkspartei zu sein.
Auf dieser Grundlage muss die SPD neue Mehrheiten suchen, als lin- ke Volkspartei, die über die Mitte hin- aus anschlussfähig bleibt. Dazu muss die Sozialdemokratie auch um die Mei- nungsführerschaft auf wichtigen zu- kunftsorientierten gesellschaftspoliti- schen Feldern ringen. Es geht um ihre Kompetenz u.a. in ethisch orientier- ter Wirtschaftspolitik, in Ökologie und Energie- und Klimapolitik, in Bildung, Wissenschaft und Kultur, bei Frauen und Familie, sowie den Neuen Medien.
Diese inhaltliche Erneuerung muss begleitet sein durch eine personelle Erneuerung, die die Neuausrichtung nach innen und nach außen überzeugend und glaubwürdig repräsentiert.
Über diesen neuen Anfang nach der historischen Zäsur der 23% muss die SPD eine breite Debatte führen, nicht nur innerparteilich, sondern gerade mit dem gesellschaftlichen Umfeld. Sie muss den Diskurs mit den zivilgesellschaftlichen Gruppen und Organisationen wieder beginnen, insbesondere zu den Gewerkschaften und ökologischen Initiativen. In der Kommunikation wird die SPD nur dann neue Glaubwürdigkeit erlangen, wenn sie ihre auf alle Wählerschichten zielenden Antworten wieder explizit mit ihren sozialdemokratischen Wurzeln, Grundwerten und Traditionen verbindet, wenn sie an den Ängsten, Einstellungen und Hoffnungen der Menschen anknüpft und wenn sie im Sinne eines zweiten „Mehr Demokratie wagen“ Aktivierung, Beteiligung und kollektive Lernprozesse fördert.